Schamanismus

Teil A: Schamanismus allgemein

1. Was bedeutet Schamanismus?

In bestimmten Kulturen finden wir ein, von dem Glauben an Geister, geprägtes Weltbild. Es besteht aus drei Teilen: der Ober-, Mittel- und Unterwelt. Es gibt nun Menschen, sowohl männlichen wie auch weiblichen Geschlechts, denen die Fähigkeit nachgesagt wird, zwischen diesen Welten wandern zu können: Schamanen. Ihre Aufgabe ist es, die Welten im Gleichgewicht zueinander zu halten. Des weiteren können sie mit den dort lebenden Geistern und Toten kommunizieren und haben so auch die Funktion des Mittlers zwischen Mensch und  Übermenschlichem. Ihre angewandten Praktiken sind oftmals wissenschaftlich nicht nachvollziehbar, weshalb sie oft als Scharlatane oder einfache Geisterbeschwörer beschimpft werden.
Der Begriff „Schamanismus“ wurde westlichen Religionswissenschaftlern und Anthropologen geprägt und fasst nun genau diese Praktiken verschiedener Kulturen von Nordasien bis Nordamerika zusammen.

2. Der Ursprung:

Über den Zeitpunkt der Entstehung des Schamanismus ist sich die Wissenschaft nicht einig. Durch Archäologische Funde wie Schmuck und Opferstätten, aber vor allem auch durch Felsmalereien, versuchte man diesen zu bestimmen, scheiterte aber. Die Problematik liegt in der Interpretation: Anfangs wurden sämtliche seltsamen Funde und Zeichnungen mit Zauberei und somit auch mit Schamanismus verbunden, was sich als falsch herausstellte. Heute wird an dieser Stelle zwar mehr differenziert, doch die Interpretation gestaltet sich weiterhin schwierig: Es gibt vielerlei Wand-Zeichnungen, die Menschen mit Geweih auf dem Kopf oder anderem Schamanen-typischen Schmuck zeigen. In der Höhle von Lascaux zeigt eine Malerei zum Beispiel einen Mann der einen Stab hält, dessen Ende wie ein Vogel aussieht. Die Frage ist nur ob man diese „Beweise“ wirklich dem Schamanismus zuordnen kann oder ob sie anderen Zwecken dienten. Um nun aber doch eine ungefähre Zeiteinschätzung zu geben beziehe ich mich auf Joseph Campbell und Ake Hultkrantz, welche die ersten wahren Schamanen in der Zeit des späten Paläolithikums (vor ca. 10000 Jahren) schätzen. Worin man sich allerdings einig ist, ist der Ort des Ursprungs: Der Norden Sibiriens. Dort lassen sich die schamanistischen Praktiken sogar über fünf Jahrtausende zurück verfolgen. Man geht auch davon aus, dass das harte Klima dort, den Schamanismus in seinen Grundzügen geprägt hat.
Das Wort „Schamane“ stammt aus den manjutungisischen Sprachen des Sibirischen Lebensraumes und bedeutet „mit Hitze und Feuer arbeiten“. Als ein religiöser Funktionsträger wurde das Wort erstmalig 1194 von dem Chinesen Xu Mengshen verwendet.

3. Verbreitung:

In der Alten Welt kam der Schamanismus in seiner eindeutigen, „klassischen“ Form in Nordeurasien, Sibirien, Innerasien, in den Himalayaländern und Südostasien sowie Indonesien vor. Er war einigen Stämmen der Aboriginees bekannt, aber nicht allen. In der Neuen Welt trat er auch sowohl bei Pflanzer- als auch Wild- und Feldbeutergesellschaften vor. Seine Hauptverbreitung hatte er bei den Inuit/Eskimos und den angrenzenden Waldlandindianern im Norden, er erstreckte sich dann hauptsächlich über den Westen, weite Teile Mittel und Südamerikas bis hin zu den Feuerland Indianern an der Südspitze des Kontinents. Er fehlte also in Afrika und in nahezu allen archaischen Hochkulturen und deren unmittelbaren Einflussgebiete (Mesoamerika, Anden, Mittelmeerraum, Vorder- Mittel- und Südasien)

Daraus lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:

  • Der Schamanismus scheint hohen Alters, dass heißt originär an Wild- und Feldbeuterkulturen gebunden zu sein.
  • Er fehlte offensichtlich von Anfang an in Afrika, auch Felsbilder liefern keinen Hinweis auf ein Vorkommen.
  • Besonders verwurzelt, daher auch Überlagerungsprozessen gegenüber beständiger und insofern formal komplexer trat er in Asien, speziell in Sibirien in Erscheinung.
  • In den angrenzenden altweltlichen Entstehungsgebieten der archaischen Hochkulturen könnte er ursprünglich auch bestanden haben, dann aber verdrängt beziehungsweise ausgelöscht worden sein.


4. Typologie:

Die folgenden Haupttypen lassen sich grob unterscheiden:

1.) Ein primärer Elementarschamanismus, verbreitet vor allem bei Sammlerinnen-, Fischer- und Jäger-Gesellschaften am Rand der Ökumene und weiter im Innern in abgelegenen, insulären Lagen. Beispiel: Eskimo, Feuerland-Indianer, Australier. Seine bestimmenden Züge: Der Schamane wird von Wildgeistern berufen, sein Klientel bilden Lokalgemeinschaften oder Verwandtschaftsgruppen.
Seine Hauptaufgaben bestehen in der Sicherung des Jagderfolges, der Gesundheit und der Fortpflanzung der Gruppe, also insgesamt der Kontrolle und fürsorglichen Pflege der Tier- und Menschenseelen. Dazu bedient er sich der Ekstasetechnik, dass heißt er entäußert sich seiner Freiseele, und reist in Begleitung seiner Hilfsgeister ins Jenseits um dort nach den Ursachen des Geschehens auf der Erde zu forschen.
Das Ritual bleibt auf das Notwendigste beschränkt, Drogen, Trachten und Utensilien finden entweder gar keine oder nur rudimentäre Verwendung.

2.) Ein sekundärer Komplexschamanismus, verbreitet vor allem in den angrenzenden Übergangsgebieten, dass heißt bei den Hirtennomaden Nord- und Innerasiens sowie tropischen Pflanzergesellschaften, zumal in solchen, bei denen die Jagd noch eine wichtige Rolle spielt. Das Klientel bilden weiterhin Verwandtschaftsverbände beziehungsweise die Dorfgemeinschaften die aus ihnen bestehen. Es bleibt bei den genannten Hauptaufgaben und ihrer Bewältigung mittels Ekstase- und Jenseitskontakten, dazu treten Züge, die sich aus der Sesshaftigkeit ableiten: Die Schamanen werden häufig von Ahnengeistern berufen, die ihnen dann auch später als persönliche Schutzgeister dienen. Das Amt ist hierbei oftmals erblich. Der Schamane führt, priesterliche Funktionen übernehmend, auch häuslich-familiäre (Geburt, Namengebung, usw.) und kommunale (etwa agrarische Riten) durch. Die schamanischen Seancen gewinnen an Komplexität und finden an bestimmten Kultstätten statt. Der Schamane trägt dazu eine spezifische Tracht samt Accessoires. Die Trance wird mit Hilfe von gedanklicher Konzentration sowie Singsang, Rezitationen, rhythmischen Bewegungen und Tanz herbeigerufen. Auch halluzinogene Drogen werden verwendet. Die Bindung an den persönlichen Schutzgeist ist sehr eng, der Schamane muss ihm Opfer darbringen, damit er ihm hilft. Hier treten auch Schamaninnen häufiger auf als im Elementarschamanismus auf.

3.) Ein hochkulturlich-synkretistisch-islamistisch, lamaistisch, hinduistisch, schintoistisch, usw. überprägter Besessenheitsschamanismus, typisch vor allem für die bäuerlichen Dorfgesellschaften Südostasiens, also Tibet, Taiwan, Korea, Japan, teils auch Nepal. Deutlich überwiegend wird das Amt von Frauen ausgeführt. Charakteristisch ist die lebenslange Bindung an eine bestimmte Geistmacht oder Gottheit die noch erkennbar die Züge der persönlichen Schutzgeister aus den vorher genannten Formtypen trägt. Sie wird geradezu kultisch, gewöhnlich in eigenen kleinen Tempeln verehrt, dass heißt sie empfängt regelmäßige rituelle Dienstleistungen und Opfer. Der Aufgabenbereich entspricht dem erweiterten Spektrum des Komplexschamanismus, zentral bleibt der Heilauftrag, es geht aber mehr um Voraussagen und Zukunftsprognosen, das Klientel ist die Dorfgemeinschaft. Im Unterschied zum klassischen Schamanismus geht die Seele des Schamanen nicht mehr auf Reisen ins Jenseits, es handelt sich also nicht mehr um ekstatische sondern Besessenheitsseancen: der persönliche Partnergeist tritt in den Leib des Schamanen ein und heilt oder gibt Auskunft durch ihn. Typisch für den Schamanismus gegenüber den gängigen Beessenheitskulten bleibt jedoch, dass der Schamane die Geistmacht freiwillentlich zu sich ruft, er ist kein passives Organ.

Neben männlichen kamen also auch weibliche Schamanen vor, ihre Zahl und Bedeutung war in den sesshaft lebenden, also überwiegend agrarischen bäuerlichen Gesellschaften. Im Elementar- und Komplexschamanismus dominierten dagegen, bis auf wenige Ausnahmen, immer die männlichen Schamanen. Sie galten institutionell als stärker als weibliche Schamaninnen. Dies rührte daher, dass die Männer durch die Jagd, Handel und Krieg einen weitreichenderen Bewegungsradius hatten als die Frauen. Dies wirkte sich im Glauben auch auf die Seelenreise aus, bei welcher die Männer durch ihre Bewegungsfreiheit weiter reisen konnten.
Die Schamaninnen behandelten manchmal eher leichtere Erkrankungen mit Kräutern, da sie durch die Sammeltätigkeit in diesem Bereich die größeren Erfahrungen hatten.

5. Die Weltanschauung:

In Gebieten, in denen Schamanismus verbreitet ist, finden wir, wie schon erwähnt, ein bestimmtes Weltbild. Es besteht aus den drei Ebenen, Unter-, Mittel-, und Oberwelt. Die drei Ebenen werden durch eine sogenannte Mittelachse verbunden, die man sich als Pfahl oder Baum vorstellt, der bis zum Polarstern reicht. Basis für dieses Weltbild bildet der Glaube an die beseelte Natur: fast alle natürlichen Gegenstände, wie zum Beispiel Wasser und Steine, haben demnach einen Geist. Die Kommunikation mit diesen geistigen Wesen, seien sie nun aus unserer (Mittelwelt) oder aus den anderen Welten, ist im Prinzip jedem möglich. Der Schamane ist jedoch der Einzige, der dies bewusst und gezielt tun kann, daher auch seine Funktion als Mittler und seine Aufgabe die Welten im Gleichgewicht zu halten. Alle anderen Menschen können den Kontakt nicht von sich aus aufnehmen, sondern müssen auf Zeichen der Geister warten. Bei alledem gibt es keine Unterscheidung von gut und böse wie wir sie kennen.


Nicht nur das Weltbild besteht aus drei Ebenen, auch der Körper wird als dreiteilig betrachtet:

  • die vergängliche Physis
  • die weniger vergängliche Vitalseele: Sie verleiht dem Körper die Lebenskraft, hält organische Funktionen aufrecht. Sie spielt eine wichtige Rolle, da sie mit dem Essen und der Fortpflanzung verbunden wird. Für sie gibt es stärkende Mittel, auch magische.
  • die leibunabhängige, unvergängliche Freiseele: Diese macht den Menschen erst zu einem Lebewesen. Sie gilt als Sitz des Bewusstseins, als Zentrum der Gedanken- und Vorstellungsbildung, Erinnerung, Imagination, ist entscheidend für soziales Zusammenleben.

Der Körper und die Vitalseele sind aneinander gebunden, beide allein sind nicht lebensfähig. Aber die Freiseele ist nicht unbedingt gebunden, im Traum streift sie umher, kann bis in die Unterwelt gelangen und bringt von dort Traumbilder mit.
Gesund ist der Mensch dabei nur, wenn diese drei Teile eine Einheit bilden, Verletzungen oder Krankheiten, die eine dieser drei Ebenen befallen, schädigen somit das ganze System. Krankheiten der Freiseele sind zum Beispiel Halluzinationen, Wahnsinn (Irrsein) und Psychosen. Begründet werden alle Krankheiten und Verletzungen mit dem eigenen oder dem Verschulden von Angehörigen. Sie werden als Warnhinweise und Strafaktionen der Ahnen und Götter gesehen, wenn Regeln verletzt oder Tabus nicht eingehalten werden.

Teil B: Der Schamane

1.) Wer ist zum Schamanen berufen?

Als erstes sollte man wissen, dass man nicht einfach so zum Schamanen wird, sondern entweder durch die Geister berufen wird, oder sich durch eine schwere Krise, die auch einer psychischen Erkrankung gleich kommen kann, auserwählt wird. Nur in seltenen Fällen ist dies ein Freiwilliger Prozess, da allein schon die Initiation zum Schamanen die „Vernichtung“ der bisherigen Persönlichkeit voraussetzt. Gleichzeitig erhält der Schamane bei der Einweihung seine Kraft, die ihn zu den schamanistischen Praktiken befähigt.

„Diese Kraft, diese Macht ermöglicht es dem Schamanen , Diener der außermenschlichen, übernatürlichen Mächte zu sein und gleichzeitig auch als menschlicher Vertreter der Sozialgruppe wirkmächtig diesen außermenschlichen Kräften gegenüberzutreten. Die „Possession“ des Schamanen hat eine doppelte Bedeutung: Aktiv-transitiv bedeutet sie Macht. Der Schamane hat Einfluss auf und Gewalt über die Geister, er kann sie beherrschen, lenken, herbeiholen. Im passiv-intransitiven Sinn bedeutet Possession, dass der Schamane mit seinem bewussten ichhaften Willen zurücktritt, seine Seele auf die Reise schickt, aus dem Körper austritt und diesen Körper als Wirkstätte von Geister-Kräften zur Verfügung stellt. Dann ist der Schamane zwar noch in seiner leiblichen Physiognomie da, ist aber ein anderer geworden: Metamorphose […] Die Übertragung der Kraft in der Initiation geschieht (wie die Berufung, von der sie sich nicht immer klar unterscheiden lässt) in Traum und Visionen, in Naturereignissen, in spontanen oder provozierten Ekstasen oder in der sogenannten Initiationskrankheit. Die sogenannte Schamanenkrankheit ist als Zuschreibung eurozentrischer Beobachter und ihrer übereilten Pathologisierungsneigung erkannt worden. Die Initiationskrankheit folgt bei aller Vielfalt der äußeren Erscheinung einem Grundmuster von Zerstückelung und Wiederherstellung, von Untergang und Selbstheilung. Darin ist das Prinzip von Untergang als Voraussetzung der Erneuerung und Wandlung. Es findet sich in verschiedenen Grenzsituationen, in Initiation und Krise, in toxischen und reaktiven und auch sogenannten schizophrenen Desintegrationszuständen. Die initiale „Krankheit“ ist nicht überall bekannt, aber wo sie vorkommt, wird sie als besondere Krankheit unterschieden. Die Symptomaufzählung allein genügt für eine Differenzierung nicht. Solche Krankheitszustände können sich über Jahre erstrecken. Der Beistand anderer Schamanen und das eigene Schamanisieren sind wichtig für das Bestehen dieser Krise. Fehlen sie, so droht das Abgleiten in eine „gewöhnliche“ Krankheit. Wenn der Initiant die sogenannte Schamanenkrankheit besteht, von der Bewusstseinsreise in die Anderswelten zurückkehrt in die Alltagswelt seiner Gemeinschaft, so ist er ein Gewandelter, er besitzt Macht über die Geisterwelt oder kann sich auch als Wirkstätte hilfreicher Geister zur Verfügung stellen. Er hat in der Wiederherstellung „neue Augen“ eingesetzt erhalten. Er vermag mehr und anders zu sehen als gewöhnliche Menschen.“ ¹

Scharfetter, Christian Prof. Dr.: Der Schamane. http://www.schamanismus-information.de; Torsten Passie 2003


Die Prozedur der Zerstückelung kennt mehrere Varianten: Eine davon ist die, dass der angehende Schamane von einem Tier gefressen wird, und von diesem wiedergeboren wird, als Kind des Tieres das nun gleichzeitig sein Schutzgeist ist. Eine andere Variante ist, dass Dämonen den Schamanen zerstückeln und auffressen. Dann sammelt die Göttin (in Gestalt eines Vogels) die Knochen ein, fügt sie zusammen und birgt diese in einem Ei das sie in einem Nest auf dem Weltbaum ausbrütet. Dadurch hat der Schamane nicht nur die Seelenflügel erhalten um sich beliebig durch die Welten zu bewegen, sondern kann auch die Krankheiten heilen, deren Dämonen sein Fleisch gefressen hatten.

„Die Initiation selbst beginnt mit einem Scheitern des Menschen in seiner bisher vertrauten äußeren Orientierung und mit einem Hineingerissenwerden in eine bestürzend neue innere Wahrheit. Der Schamane in seiner Initiation das Tagesbewusstsein und schlüpft in seinen Träumen und Visionen sozusagen in die Innenseite der Dinge. Er identifiziert sich mit Tieren. Er vereinigt sich mit Geistern. Er durchlebt die verschiedensten Krankheiten. Er durchfliegt Himmel und Unterwelten. Das Reich der Toten wird ihm vertraut. Vor allem aber durchlebt er den eigenen Tod. Er erfährt, wie er zerstückelt oder aufgefressen wird. Gerade durch seinen eigenen Tod hindurch findet er zu einer neuen Identität. Was er bisher war, wird zerstört und stirbt. Wenn wir das, was zerbricht, das Ich nennen, so lässt sich sagen: Schamanismus ist der Tod des Ichs und das Erreichen einer neuen Identität, begleitet durch die wirre Vielfalt schrecklicher und heilsamer Träume und Visionen.“ ³

Gasper, Hans [Hrsg.]: Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen. Herder, Wien 1990


Nach der Initiation begibt sich der Schamane in die Lehrzeit, wobei es sich hierbei um eine Lehre bei einem älteren Schamanen handelt, es aber auch vorkommt, dass die Geister bei der Initiation selbst dem angehenden Schamanen einige Geheimnisse schon verraten haben.

„In dieser Lehrzeit lernt der neue Schamane die Selbstinduktion verschiedener Bewusstseinszustände, das Sich-Hineinversetzen in die Ekstase und die Rückkehr aus dem veränderten Bewusstseinszustand. Er lernt den Umgang mit den Hilfsmitteln zum Schamanisieren, seinen Berufsinstrumenten, seiner Ausrüstung. Er lernt Mythologie, Kosmologie, Anthropologie, die Seelenlehre, die Geschichte, die Tradition und Ethik seines Volkes. Er wird zum Geschichts- und Geschichtenerzähler, zum Epiker, zum Lehrer, Berater, geistlichen Führer seines Volkes.“ ¹

Scharfetter, Christian Prof. Dr.: Der Schamane. http://www.schamanismus-information.de; Torsten Passie 2003

„Die Schamanen praktizieren Kasteiung mit dem Ziel, ihr Bewusstsein so weit auszuweiten, bis ihnen die Tür zur Welt der Geister und Götter wieder offen steht. In ihren Ekstasen steigen sie in die Himmel hinauf und in die Unterwelt hinunter. Sie bringen den Göttern Opfertiere, sie begeleiten die Verstorbenen ins Land der Toten. Mit Trommeln und Tanz, mit Versenkungsübungen und Initiationsriten, manchmal sogar mit den von der Tradition sanktionierten Drogen begeben sie sich auf ihre Seelenreise. Als Drogen werden Pflanzen (Peyote, Hanf, Fliegenpilz, Mutterkorn) verwendet, die meist gekaut, aber auch als Sud getrunken werden. Für den Schamanen bedeuten Drogen, sich das anstrengende motorisch und akustische Zeremoniell zu ersparen, das zur Ekstase führt; es wird „kleines Schamanieren“ genannt. Hilfsgeister, oft in Gestalt von Tieren begleiten die Schamanen auf ihrer „Reise“. Mit diesen Hilfsgeistern gelingt es dem Schamanen auch, Geister der Krankheit zu erkennen und sie aus Patienten herauszulocken oder herauszutreiben. Auf seiner Seelenreise spricht der Schamane mit Geistern und Göttern, mit Tieren und Dingen, mit Verstorbenen und mit Krankheiten.“ ³

Gasper, Hans [Hrsg.]: Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen. Herder, Wien 1990


„Der Schamane ist ein Bewusstseinskundiger, der sich selbst induziert aus dem Bereich des Alltagsbewusstseins in außergewöhnliche Bewusstseinszustände und damit in die Anderswelt begeben kann. Damit wird er erst zu seiner Mittlerfunktion befähigt. Der Schamane stellt die Beziehung zwischen der sichtbaren Welt des Alltagsbewusstseins und der unsichtbaren transintelligiblen Kräftewelt her. Damit steuert der Schamane die Beziehungen zwischen der menschlichen und außermenschlichen, der sozialen und der asozialen Wirkbereiche. Er ordnet das Verhältnis zwischen der Menschenwelt, der Welt der Tiere, Pflanzen, Steine, der Erde und der Welt der transzendenten Kräfte, der Geister. […] Unter den zahlreichen Aufgaben des Schamanen ist das Heilen von Krankheiten eine seiner vornehmsten. Als spiritistischer (das heißt mit Geistern umgehender) Heiler wirkt der Schamane neben anderen Trägern von kurativen Funktionen, neben dem Kräuterkundigen, dem Knochenspezialisten, den verschiedenen Organspezialisten, neben der Hebamme. Der Schamane vermittelt nicht ichhaft, sondern medial immaterielles, nicht technisches, „geistiges“ Heilen. Die Voraussetzung das Heilens ist die Diagnose. Der Schamane hat im besonderen Bewusstseinszustand den diagnostischen Durchblick in den Leib des kranken Menschen. Er „weiß“ dann unmittelbar, was der Kern der Erkrankung ist. Im besonderen Bewusstseinszustand der Ekstase geschieht der diagnostische Prozess: das Erkennen der Krankheit und ihrer Ursachen als Voraussetzung für das Finden der rechten therapeutischen Maßnahmen. […] Der Schamane wird aufgrund seiner Macht gebraucht, verehrt, aber auch mit Scheu betrachtet. Er ist eine ambivalente Gestalt, unentbehrlich und zugleich gefürchtet. Durch seine paranormalen Fähigkeiten ist er eine marginale Gestalt, anders als die weltliche Zentralfigur des Stammeshäuptlings und anders als in den Hochreligionen der Priester als religiöser Funktionsträger.“ ¹

Scharfetter, Christian Prof. Dr.: Der Schamane. http://www.schamanismus-information.de; Torsten Passie 2003

2.) Seine Aufgaben und gesellschaftliche Funktion

Die Vermittlungstechnik des Schamanen ist die Ekstasetechnik.

„Die schamanische Technik par excellence besteht im Übergang von einer kosmischen Region zur anderen: von der Erde zum Himmel oder von der Erde zur Unterwelt. Der Schamane kennt das Geheimnis des Durchbrechens der Ebenen. Dieser Verkehr zwischen den kosmischen Zonen ist durch die Struktur des Universums möglich gemacht. Dieses wird […] im Großen aus drei Stockwerken – Himmel, Erde und Unterwelt- bestehend gedacht, die untereinander durch eine Mittelachse verbunden sind. Die Symbolik, in der sich Zusammenhang und Verbindung zwischen den drei kosmischen Zonen ausdrückt, ist ziemlich komplex und nicht immer frei von Widersprüchen. Der Grund dafür ist, dass diese Symbolik eine Geschichte hat und im Lauf der Zeit oftmals mit anderen jüngeren kosmologischen Symbolismen kontaminiert und dadurch modifiziert worden ist. Doch das Schema, auf das es ankommt, scheint durch alle Einflüsse hindurch: Es gibt drei kosmische Regionen, welche man der Reihe nach durchmessen kann, weil sie durch eine Mittelachse miteinander in Verbindung stehen. Und diese Achse gilt als „Öffnung“, als „Loch“; durch dieses Loch steigen die Götter auf die Erde herab und die Toten in die unterirdischen Gefilde, durch dieses Loch vermag die Seele des in Ekstase befindlichen Schamanen aufzufliegen oder abzusteigen, wie er es bei seinen Himmels- oder Unterweltsreisen bedarf. […] Diese Kosmologie erfuhr, wie zu erwarten, eine genaue Wiederholung in den Mikrokosmos der Menschen. Die Weltachse fand ihre konkrete Darstellung in den Pfeilern, welche die Wohnung tragen, oder in einzeln stehenden Pfählen, den „Pfeiler der Welt“. Für die Eskimos zum Beispiel ist der Himmelspfeiler völlig identisch mit dem Pfosten in der Mitte des Hauses.“ (4)

Eliade, Mircea: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974


Der Sinn des Schamanen liegt im Verändern von schicksalsabhängigen Gegebenheiten wie Krankheit, Jagdglück, Fruchtbarkeit usw. Dies ist zurückzuführen auf eine Wechselbeziehung zwischen der Erdenwelt mit der Über- und Unterwelt.

„Der sichtbaren Diesseitswelt ist eine energetisch-animistische transintelligible [über den Intellekt hinausgehende] Welt zugehörig. Der Schamane kann sie sehen und beeinflussen. Der Mensch ist dem Ganzen verbunden, ist systematisch eingebunden in das Ganze des Kosmos. Diese Einbindung bedeutet Eingeordnetsein und Aufgehobensein genauso wie Verpflichtung oder Rücksichtnahme auf die Geisterwelt. Es ist eine ökologisch-systemische Ethik. Der Mensch hat darauf zu achten, die Geister, die Herren der Tiere und Pflanzen, des Flusses, des Sees, der Berge, des Wetters nicht zu kränken.“ ¹

Scharfetter, Christian Prof. Dr.: Der Schamane. http://www.schamanismus-information.de; Torsten Passie 2003


„Die verschiedenen Reiche der Geister befinden sich nicht immer auf anderen kosmischen Ebenen, sondern sind ebenso auf dieser Erde zu finden, und es ist dann die Aufgabe des Schamanen, zu bekannten Plätzen in vertrauter Landschaft zu fliegen. Aber selbst auf der Erde wird die Andersartigkeit dieser Reiche durch physische Unzugänglichkeit oder Tabus, die Lage betreffend, betont, etwa durch das furchteinflößende Aussehen eines Felsens oder einer Höhle.“ ²

Viebsky, Piers: Schamanismus – Reisen der Seele, magische Kräfte, Ekstase und Heilung. Duncan Baird Publishers Ltd 2001


„Schamanistisches Tun hat eine altruistische Zielsetzung als Mittler zwischen Diesseits und Jenseits, als Anwalt der Seele und des Lebens, das vor negativen Einflüssen geschützt werden soll. Schamanen sollen durch ihr Wirken, für die Gruppe, Leben sichern und Lebensqualität verbessern. […] Der klassische Schamane ist wahrscheinlich ein eigenes und neues Phänomen in der Religionsgeschichte. Trotzdem begegnen wir in ihm Grundzügen einer Art archaischer Mystik, wie wir sie auch bei zahllosen Medizinmännern, Magiern, Zauberern und Geistheilern in Indonesien, Australien, Afrika und Amerika finden. Archaische Ekstasetechnik  im Dienst der Gemeinschaft ist nicht auf einen Kulturkreis beschränkt. Sie realisiert wahrscheinlich eine menschliche Urmöglichkeit, die sich mutatis mutandis auch heute aufgreifen und aktualisieren lässt.“ ³

Gasper, Hans [Hrsg.]: Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen. Herder, Wien 1990

3.) Kleidung und Werkzeug

„Der Schamane hat meistens eine besondere Ausrüstung. Das wichtigste davon sind seine Kleidung und seine Trommel (oder ein anderes Instrument zur Erzeugung rhythmischer Geräusche, z. B. eine Rassel).
Die Tracht stimmt zwar im allgemeinen in der Grundstruktur mit der lokalen Kleidung überein, kann bei manchen asiatischen und nordamerikanischen Völkern aber auch transvestitische Elemente aufweisen. Die Kleidungsstücke müssen aus dem Fell oder Leder besonderer Tiere und mit besonderen Instrumenten hergestellt werden. Zum Teil werden auch mehrere Kleidungsstücke, je nach Oberwelt- und Unterweltfahrt benötigt. Die Kleidung kann mit Farben geometrisch, mit Figuren von Tieren, Sonne, Mond, Sternen bemalt sein. Sie kann behangen sein mit Glocken, Schellen, Fransen, Metallstücken, mit Ketten, Masken (Darstellung des Schutzgeistes). An Handschuhen und Stiefeln lässt die Bemalung ihre Symbolik als Tierbeine erkennen. Auf dem Kopf trägt der Schamane eine besondere Kappe, einen Helm, ein geweihartiges Metallgebilde, Federn. Die Kleidung des Schamanen repräsentiert semantisch die Verbindung des Schamanen mit der Geisterwelt.
Zahlreich sind die Instrumente, die der Schamane für seine Tätigkeit braucht: Schale, Seil, Teile von Tieren, Kerzen und Musikinstrumente (Trommel, Rassel, Saiteninstrumente, Glocke, Schelle). Manchmal hat er auch noch Werkzeug für Tieropfer zur Hand.
Das bedeutendste Instrument des Schamanen ist seine Trommel. Sie ist das Medium seiner Reise. Sie wird zum Reittier, zum Pferd, Vogel, Rentier. Die Trommel ist Repräsentant des Schutzgeistes und materialisierter Träger der schamanischen Macht. Die Herstellung und Belebung der Trommel ist ein bedeutender Abschnitt im Werdegang des Schamanen. Das Suchen des geeigneten Baumes (oft Birke oder Lärche), das Gewinnen des Holzes, ohne den Baum dabei zu abzutöten, das Zurichten der Trommelform (rund, eiförmig, oval), das Bespannen mit dem Fell eines bestimmten Tieres sind aufwendige heilige Akte. In der Weihe der Trommel gewinnt diese ihre machtvolle Seele, ihr eigentliches unfassbares Wesen.
Zum Flug in die Anderswelt gehört die räumliche Erhöhung: ein Pfahl, ein Baum, eine Leiter, eine Plattform können dazu dienlich sein.“ ¹

Scharfetter, Christian Prof. Dr.: Der Schamane. http://www.schamanismus-information.de; Torsten Passie 2003

4.) Die Trance – Reise in eine andere Welt

„Veränderter Bewusstseinszustand bedeutet Erfahrung einer anderen Welt außerhalb des Alltagsbewusstseins mit seiner kontinuierlichen nicht umkehrbaren Zeit und dem dreidimensionalen Weltraum. Die logischen Gesetzte des mittleren Tageswachbewusstseins, das Sichausschließen von Gegensätzen und die Stabilität von Identitäten gelten in dieser Anderswelt nicht. Da ist kein stabiles Ich mehr. Selbst die Erfahrungen der verschiedenen Sinne fließen ineinander, wie auch Wahrnehmung, innere Schau, Vorstellung, Fühlen, Ahnen, Zukunfts- und Vergangenheitsschau ineinander übergehen können. In dieser Anderswelt der veränderten Bewusstseinszustände schließt der Tod das Leben nicht aus, vorgeburtliche Existenz geht in nachgeburtliche über. Innen und außen sind nicht mehr geschieden. Gestalten sind vertauschbar in der ständigen Metamorphose animistischen Kräftespiels. Das aus der Perspektive des Alltagsbewusstseins historisch Ungleichzeitige kann dem Menschen im veränderten Wachbewusstsein gleichzeitig erscheinen. – Solcherart ist die andere Wirklichkeit, erfahren im Außeralltagsbewusstsein.
Die funktionelle Bedeutung der veränderten Bewusstseinszustände beim Schamanisieren ist klar. Im veränderten Bewusstseinszustand nämlich ist dem Schamamen das Erkennen (die Diagnose) und das Handeln (die Therapie) möglich. […] Das sind zwei Hauptvorgänge in der schamanischen Ekstase: die extrakorporierte Seele geht auf die Reise, um sich der verlorenen Seele des Patienten zu bemächtigen. Oder der Schamane impersoniert im „entseelten“ Zustand den Schutzgeist und die Hilfsgeister. Es sind mehrere Stufen, sozusagen Tiefendimensionen der Trance zu unterscheiden. Der Schamane beginnt mit oft stundenlangem Trommeln, Singen, Tanzen, Springen, Anrufen der Geister und inszeniert dabei imaginäre, verbale und averbale dramatische Darstellungen des Geschehens auf seiner Seelenreise. Schließlich erreicht er einen „wilden“, ekstatischen, agitierten Höhepunkt der Trance. Diese kann manchmal mit Zuständen der Bewegungslosigkeit und Starre enden. Die Tiefe der Trance kann während der Session mehrmals wechseln.
Der persönliche Schutzgeist des Schamanen ist sein wichtigster Helfer. Er wird in der Initiation „gefunden“, entdeckt, erworben. Oft ist es der Geist der schamanistischen Vorgänger, deren Funktion der Initiant zu übernehmen hat. Entsprechend der Kulturstufe der Jäger und Sammler und der nomadisierenden Tierzüchter tritt der Schutzgeist häufig als Tier in Erscheinung. Er nimmt die Gestalt der Tiermutter an.  […] In dieser totemischen Verbindung von Tier und Mensch als Einheit ist der Quell der schamanistischen Kraft. Menschliche und tierische Lebewesen bilden eine Sippe, sind miteinander Verwandt, können sich ineinander verwandeln. Hilfsgeister, auch vielfach in Tiergestalt, können je nach Bedarf vom Schamanen und seinem Schutzgeist zugezogen werden. Sie können als Sendboten und als Kampfgefährten wirken.“ ¹
 

Scharfetter, Christian Prof. Dr.: Der Schamane. http://www.schamanismus-information.de; Torsten Passie 2003

5.) Literaturangaben
 

Teil A: Schamanismus allgemein
 


Teil B: Der Schamane
 

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